Rezension: Die Bäume am Abhang

Wenn sich die Menschheit klimatisch beschleunigt dem Ende zuneigt, so ist es durchaus an der Zeit, das Literaturprogramm darauf einzustellen und Genres zu benützen, die dieser besonderen Zeit entsprechen.
Eleonore Weber greift auf einen unauffälligen Satz aus der ersten Duineser Elegie von Rainer Maria Rilke zurück, um eine Gedichtkette auszulösen, die elegisch wirkt, ohne eine Elegie zu sein. – „Es bleibt uns vielleicht irgendein Baum am Abhang, dass wir ihn täglich wiedersehen“.
Von den Alpen aus betrachtet gibt dieser zitierte Baum die letzte Standfestigkeit, während der Hang schon abrutscht, er ragt vielleicht aus einem Lawinenkegel, der seine Artgenossen flachgelegt hat, und oft ist es ein einzelner Baum, der die Feuersbrunst übersteht und Halt für die aufzuforstenden Gewächse im Kahlschlag gibt.
Abseits dieser alpinen Sicht auf Bäume am Abhang tun sich auch Vergleiche mit Sozialgebilden auf, Stichwort Familienaufstellung, worin Mitglieder sich an den Abhang krallen, während andere schon abgerutscht sind.
In knapp achtzig Einsätzen wird der große elegische Strom von Stabilität und Haltlosigkeit im Ton aufgenommen und durchgehalten, während die einzelnen Sequenzen wie „normale“ Gedichte erscheinen, die einzeln gelesen werden können. Da das Projekt als Stimmenoratorium angelegt ist, wird es im Publikum unterschiedliche Stufen der Aufmerksamkeit geben, manches sticht unvergesslich hervor, anderes versickert im Nachhall des Gehörten. Für aufmerksame Rezeption in einem Guss dürften mehrere Aufführungen vonnöten sein.
Dabei ist der Sprechstrom klug aufgeteilt in mehrere Gedichte, es gibt sogar Heldinnen, die als Mutter-Mutter, Mutter, Tochter und ihre Idealisierungen auftreten.
Der Beginn freilich gehört den Vögeln, womit dokumentiert ist, dass es sich um Lyrik handelt. In der Lyrik kommen immer Vögel vor, die das Aufflattern der Zeit zeigen und darauf hinweisen, dass die Vögel als Tierart auf dem absterbenden Ast nisten.
„DIE VOGELUHR muss einmal im monat / aufgezogen werden / die figurenuhr einmal in der woche / jeden samstag / die biedermeieruhr täglich / zur gleichen zeit / die schwarze pendeluhr im schlafzimmer / darf nicht verrückt werden“ (7)
Damit ist auch das Programm vorgestellt, verschiedene Zeiten bedrängen ihre Benutzer, die manchmal auf die falsche Uhr schauen und so aus der Zeit fallen.
Dieser Abstand zur Zeit wird in vier Kapiteln gemessen: I im abstand (8), II im uhrwerk (10), III am abhang, IV im abstand (91). Aus den Zeitangaben ergeben sich Ortspunkte, die als Vermessungslatten in die schiefe Ebene bürgerlicher Konventionen eingerammt sind.
Die Idealvorstellungen, Erziehungsziele oder pädagogischen Maßnahmen kommen im Kleid eines Kurzessays daher und werden dabei gepfählt und dekonstruiert. Im Beispiel vom Bürgertum heißt es: „BÜRGERLICH SEIN / ist keine geschichte mit open end / aber wenigstens sicher / man weiß was etwas ist weiß / wie es endet wo alles / hingehört es ist sicher nichts unerwartet …“ (18) Im ähnlichen Duktus dieser Anweisung für eine Hochzeit ist später auch das FUTURUM gestaltet, das sich selbst erlöst und zum FUTURUM EXAKTUM wird. Die Gebrauchsanweisungen für ein bürgerliches Leben enden schließlich im Seufzer „es wird alles gewesen sein“.
Aus diesen aufgebauten Erwartungen und ihrer Untauglichkeit für die Realität entwickelt sich eine Biographie, worin sprunghaft erzählt wird, wie die mühsam in der Kindheit aufgebauten Bilder ihre Statik verlieren und zusammenfallen, sobald sie als Stütze herangezogen werden.
Mutter und Tochter verlassen ihre ursprünglichen Zeitebenen als Zeitzeugen der jeweiligen Gegenwart und verschmelzen zu einem verqueren Zeitgefüge mit isolierten Erlebnispartikeln.
„HITLERSMANN / steht am Auto dran / war mein erstes gedicht / denkt die mutter da war ich vier / später wurde ich in der schule / für dumm gehalten weil ich das bild / des führers nicht fand / mit tinte markierte ich mir / die richtige hand für den rechten gruß / nach stalingrad schrieben wir / vivat – sieg an allen fronten!“ (57)
Die Sargnägel der großen Geschichte werden umgeschmiedet für den persönlichen Gebrauch und enden als kleine Stifte, um das Flatterhafte für die eigene Biographie zusammenzunageln. Die ersten Gedichte aus der Kindheit brechen im Alter der Erzählerin wieder durch und spiegeln die Vergangenheit in einem moribunden Kontext.
Drei Generationen Mütter-Töchter sprechen sich durch den Text und arbeiten sich selbst und angrenzende Themen ab, es ist von Untreue die Rede, von Demenz, von Hochzeitsträumen und dem Verdunsten von Beziehungen.
Das Ende des Textes relativiert das Gesprochene mit der vernichtenden Frage ,Was bleibt?‘.
„ABER WAS BLEIBT kann nicht eingenäht werden / mit ein paar wörtern in eigene taschen was / übrig bleibt steht noch / steht wenn es / nichts mehr zu sagen gibt / :immer // sind bäume am abhang“ (93)
 
Eleonore Weber: Die Bäume am Abhang. Gedichte.
Wien: edition fabrik.transit 2022. 102 Seiten. EUR 13,-. ISBN 978-3-903267-31-2.
Eleonore Weber, geb. 1966 in Wien, lebt in Wien.
Helmuth Schönauer  17/12/22